„Arm trotz Arbeit – wohin steuert der deutsche Arbeitsmarkt?“
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannt sich – und doch können immer mehr Vollzeitbeschäftigte nicht von ihrem Einkommen leben. Zufall oder Folge der Agenda 2010? Dieser Frage gingen am Montag, dem 26.5. rund 80 Besucherinnen und Besucher gemeinsam mit Ottmar Schreiner im „Hotel am Kurfürstendamm“ nach.
Neben Ottmar Schreiner (MdB, Bundesvorsitzender der AfA Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen) diskutierten auf dem Podium Dieter Scholz, Vorsitzender DGB Berlin-Brandenburg, Dr. Alexandra Wagner, Geschäftsführerin FIA Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt, und Prof. Dr. Bernd Reissert, Rektor der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA).
Auf der gemeinsam von den SPD-Abteilungen City-Westend (73), Neu-Westend (78), Olivaer Platz (93) und der AfA Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD Charlottenburg-Wilmersdorf durchgeführten Veranstaltung wurde erörtert, welche Arten von Beschäftigungsverhältnissen vorrangig die Arbeitslosenzahlen reduzieren und welche politischen Strategien die Sozialdemokratie und Gewerkschaften entwickeln müssen, um ein Absinken immer größerer Teile der Arbeitnehmer in unsichere und unterbezahlte Tätigkeiten zu verhindern.
In der Analyse wurde auch von der wissenschaftlichen Seite bestätigt, dass Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse ohne die Hartz-Gesetze kaum in dem vorhandenen Umfang die Arbeitswelt prägen könnten.
Die Angst der Arbeitnehmer vor einem Abgleiten in Hartz IV, die beinahe gänzliche Abschaffung der Zumutbarkeitsregeln und viele weitere Sozialgesetzbuch II-Regelungen führten zu einer immer weiteren Aushöhlung von allgemein verbindlichen Sozial- und Rechtsnormen. Als besonders problematisch wurden auch die 1 €-Jobs angesehen, die zum einen – entgegen dem Gesetz – immer mehr reguläre Arbeit vernichten, zum anderen aber auch den gesellschaftlich anerkannten Wert von Arbeit infrage stellen und so indirekt Lohndumping befördern.
Für Ottmar Schreiner ist eins klar. Die SGB II-Regelungen sind nicht reformierbar. Es sei ein grundlegendes Umdenken vonnöten – hin zu einer modernen Sozialgesetzgebung und Absicherung. Um ein Zeichen gegen Lohndumping zu setzen, muss zu allererst der öffentliche Sektor auf die 1 €-Jobs verzichten. „Die 1 €-Jobs gehören abgeschafft!“, so Ottmar Schreiner.
Natürlich spielte in diesem Zusammenhang die Mindestlohndiskussion eine große Rolle. Auf die Frage, ob Mindestlöhne tatsächlich Arbeitsplätze gefährden, konnte die auf dem Podium vertretende Wissenschaft eine klare Antwort geben. Hier müsse man keine theoretischen Diskussionen führen, es helfe ganz einfach die Empirie, so Alexandra Wagner: In keinem der europäischen Länder, in denen ein Mindestlohn eingeführt wurde, gab es einen damit zusammenhängenden Arbeitsplatzabbau. Und Prof. Reissert empfahl einen Blick nach Großbritannien, wo Mindestlöhne vorbildlich eingeführt und mittels einer Kommission stets kontrolliert und angepasst würden, ohne dass es zu negativen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft komme.
Eine gemeinsame Arbeitsmarkt-Politik zwischen Gewerkschaften und SPD sei nach Ansicht von Dieter Scholz durchaus denkbar. Die von Ottmar Schreiner beschriebene Neuorientierung als Abkehr von den Hartz-Gesetzen sei hierfür natürlich eine wichtige Grundvoraussetzung. Generell wird der Aspekt „Arm trotz Arbeit“ beim DGB zukünftig in der öffentlichen Auseinandersetzung eine große Rolle spielen.
Dieter Scholz machte darüber hinaus deutlich, dass es trotz aller Differenzen in den letzten Jahren nach wie vor eine große Nähe der meisten Gewerkschafter zur Sozialdemokratie gäbe.
Nach zahlreichen Fragen aus dem Publikum und interessanten ergänzenden Statements auf dem Podium wurde eindrucksvoll deutlich, dass man sich auf jeden Fall seitens der SPD nachhaltig um Änderungen der arbeitsmarktpolitischen Regelungen bemühen müsse, um das System insgesamt wieder sozialer auszugestalten und einer zunehmenden Amerikanisierung des Arbeitsmarktes entgegen zu wirken. Nur so könne verhindert werden, dass immer mehr Menschen trotz Vollbeschäftigung Zusatzleistungen zur Existenzsicherung – was letztendlich einer Lohnsubventionierung durch den Steuerzahler entspräche – benötigen.
Dieter Scholz und Ottmar Schreiner versprachen zum Abschluss der Veranstaltung mit einem Lächeln, dass Gewerkschaften und SPD weiter im Dialog bleiben würden, um gemeinsam für eine bessere Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik zu streiten – allein schon, weil die beiden Diskussionsteilnehmer freundschaftlich einander verbunden seien.